«Les jours des éphémères»

Festival für ephemere Kunst, 3. Ausgabe, Künstlerhaus S11, Solothurn

Freitag 24. – Samstag 26. April 2015

Beteiligte Kunstschaffende: Patricia Jacomella-Bonola, Claudia Vogel, Heidi Morgenstern, Meinrad Feuchter, Florian Fülscher, Moira & Camille Scheidegger, Regina Simon, Thomas Zollinger, Isabel Obrecht, Regula Verdet Fierz, Ana Rakel Ruiz de Sebando

Martin Rohde

Co-Kurator & Ausstellungsleiter Künstlerhaus S11, Solothurn

 

Eröffnungsrede Martin Rohde: folgt

Vernissagerede für die Ausstellung „Les jours des éphémères“ im Künstlerhaus s11 vom 24.4-26.4.2015 

 

 


Patricia Jacomella Bonola

La vie suspendue

Patricia Jacomella Bonola ist eine gestandene auch international tätigen Künstlerin aus Zug, die nun schon zum dritten Mal dabei ist. Schon nach dem ersten mal fragte ich mich, welche Sammlerleidenschaften sie wohl noch so im Geheimen habe. Sie zeigte beim ersten Anlauf im Künstlerhaus mehrere Mandalas aus über Jahre mit der Familie gesammelten Eierschalen, die sie im Raum für die Zerstörung durch das Publikum auslegte. In der zweiten Ausgabe waren es die gesammelten Briefumschläge, die man im Botta-Turm zerreissen und fallen lassen sollte und nun also die gesammelten Medikamenten-Beilagen, die sie im 1. und 2. Stock von der Decke hängen lässt. Alle Sammelobjekte zeugen von einer langjährig zusammengetragenen Begleiterscheinung von Familienleben. Wir schlagen fast täglich Eier auf, wir bekommen alltäglich viel zu viele Briefe und leider öffnen wir auch immer wieder zu viele Medikamenten- Packungen, denen warnende Vorschriften beiliegen. Diese hängen nun dem Damokles- Schwert gleich, bedrohlich in unserem Kunstraum von der Decke und erinnern uns an die Vergänglichkeit unseres Lebens. Wenn wir durch sie schreiten, fallen sie vielleicht wie Blätter im Herbst des Lebens von den Bäumen und rufen unsere Erinnerungen an Krankheiten hervor, die nicht nur wir selbst durchstehen mussten. Unser Leben hängt oft nur an einem seidenen Faden und das unser Lieben auch. So sahen es schon die alten Griechen mit ihrem Mythos über die Schicksalsgöttinnen, die Moiren. Die Arbeit „La vie suspendue“ assoziiert und verknüpft unterschiedliche Realitäten des kollektiven Unbewussten und hinterfragt nicht nur die bedrohliche Seite, sondern auch die positive Suche nach einem Heilmittel, das uns rettet. Martin Rohde


Claudia Vogel

Wach bleiben

Claudia Vogel arbeitet mit Gerüchen als künstlerischen Expressionen und solche bietet sie auch in unserer Ausstellung wieder provokativ und unüberseh- und riechbar an. Düfte sollen sich dem Publikum einprägen, Düfte aller animierenden aber auch abstossenden Art, in diesem Fall diejenigen von herkömmlichen Wachmachern: Energy drink, Kaffee, Schwarztee, Cola, Schnaps. Jeder wird da seinen eigenen Favoriten auswählen können. Über ein Infusionsbesteck lässt sie entsprechende Flüssigkeiten auf Gipspulver am Boden tröpfeln, wobei farbige Gebilde am Boden entstehen. Also etwas fürs Auge, aber vor allem fürs Olfaktorische, lassen Sie sich überraschen und tauchen Sie ein. Martin Rohde


Heidi Morgenstern

Die blaue Stunde

Heidi Morgenstern wird uns heute die besonderen Stimmungsverhältnisse der alltäglich flüchtigen „blauen Stunde“ in einer Performance aufzeigen. In ihren eigenen Worten: „Jeder Raum hat seine eigene Geschichte und Atmosphäre, wirkt in eigener Weise auf uns.... Für die Dauer der ‚Blauen Stunde’, also der Stunde vor der vollkommenen Dunkelheit entsteht ein ‚choreografisches Still’ mit 2 Darstellern. Besucher können in die Szene einsteigen, mit der eigenen Bewegung im Raum die Veränderung der Beziehung zu den Akteuren erspüren, oder auch aussenstehender Beobachter bleiben. Die Nähe von Inszenierung und ‚Wirklichkeit’ entspricht dem Bedeutungssinn des Zeitpunkts der ‚Blauen Stunde’, der Zeit zwischen Tag und Nacht, kurz vor Verschwinden des letzten Sonnenlichts. Mit der untergehenden Sonne erlischt das Licht, und auch das Leben der Eintagsfliege erlischt.“ Martin Rohde


Meinrad Feuchter

Aleppo

Meinrad Feuchter ist mit einer installativen Aktion vertreten, die sich mit dem aktuellen politischen Thema Syrien und der Flüchtlingssituation auseinandersetzt. Er möchte ein Erinnern an Aleppo bewirken, dass einmal für kurze Zeit in den Welt-Schlagzeilen vertreten war, aber seid dem wieder dem Vergessen anheim gegeben ist. Dabei gibt es nach wie vor erschütternde Geschichten aus dieser Stadt zu erzählen. Vier syrische Flüchtlinge werden sich gegenseitig Geschichten in ihrer Sprache erzählen und das Publikum kann nur bedingt teilhaben. Stimmen aus 1001 Nacht, die wir hören und wohl alle unterschiedlich interpretieren. Eine neue Wirklichkeit entsteht dadurch, die uns hoffentlich zum Erinnern und Hinterfragen zwingt. Darüber hinaus versteht sich die Aktion als Darstellung der Flüchtigkeit von Wissen. Wir wissen so gut wie nichts von diesen Flüchtigen und schon morgen interessieren uns andere Themen weit mehr. Ist dieses Nicht-mehr-wissen-wollen den ephemeren Tendenzen unserer Zeit geschuldet? Martin Rohde


Florian Fülscher

Das Einfachste ist das Schönste

Florian Fülscher, der am Samstag mit einer Ikebana-Performance vorgesehen war, uns mitteilte, dass seine Helferin, die japanische Ikebana-Künstlerin verhindert sei, dachten wir Organisatoren schon, dass vielleicht sein spezieller Beitrag zur ephemeren Kunst darin bestehen würde, sie gar nicht erst stattfindet zu lassen. Nun hat er sich aber glücklicher Weise kurzfristig entschieden, doch aufzutreten und seine Performance in der Weise abzuändern, dass er sich nun vom Publikum mit verschiedenen Materialien schmücken lässt. Wir sind sehr gespannt darauf, wie er sich selbst zum Kunstwerk stilisieren lässt. Martin Rohde


Camille & Moira Scheidegger

Analoge Spams

Die beiden Basler Schwestern Camille und Moira Scheidegger möchten in ihrer Arbeit „Analog Spams“ auf das Problem der „Zumüllung“ mit Informationen und Bildmaterial hinweisen. Auch das ist eine Folge der zunehmenden Beschleunigung unseres Lebens. Täglich sind wir Opfer von unzähligen Spams auf dem Bildschirm. Ob wir Mails aus Nigeria erhalten, die uns reich machen wollen, oder Hilferufe aus der Ukraine, von Frauen, die ihr Glück suchen, bis hin zu Kaufangeboten im Internet – alle wollen unsere Aufmerksamkeit, unser Mitleid, unser Geld. Künstlerische Spams findet man dagegen eher selten. Und unsere zwei Künstlerinnen wollen nun den Spiess in gewisser Weise umdrehen, oder wohl besser gesagt, zurückdrehen. Sie versetzen sich noch einmal in die analoge Welt, der ausgedruckten Photos und realen Telefonbüchern. Die vor Ort aufgenommenen Photos von eigenen Inszenierungen des Kunstpublikums, werden nach Auswahl einer unbeteiligten oder ausgesuchten Person aus dem Telefonbuch per Post verschickt, um sie mit einem „Kunstspam“ einzudecken. Den Künstlerinnnen ist wichtig, dass durch die aktive Teilnahme die Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit erhalten, selbst Teil des Kunstwerks zu werden. Die Empfänger werden für einmal in Grossgedrucktem über das Anliegen informiert. Auf dem Couvert wird eine Botschaft stehen, wie z.B.: „Sie haben Kunst gewonnen. Öffnen auf eigene Gefahr“. Oder: „Dies ist KunstSpam“. Sie können den Brief öffnen oder gleich in den Mülleimer werfen“. So können sich die Empfänger entscheiden, ob sie sich auf einen möglicherweise irritierenden Inhalt einlassen wollen oder nicht. Martin Rohde


Regina Simon

Zeitreise

Regina Simon wird eine Prozession durch die Stadt Solothurn vornehmen, bei der die heilige Solothurner Zahl 11 eine bedeutende Rolle spielt. Zu Beginn wird sie eine Leinwand mit der Aufschrift „vergänglich“ (wohlgemerkt 11 Buchstaben) in einem ersten Brunnen auf den Treppen der Kathedrale der Altstadt bearbeiten, wobei der erste Buchstabe „v“ durch Auswaschen/Ausbürsten seine Gestalt verlieren wird. Im Verlauf der Prozession vom 1. zum 11. Brunnen der Stadt wird so jeder weitere Buchstabe vergehen, was dazwischen als Interaktion zwischen der Künstlerin und dem städtischen Publikum geschieht, bleibt offen. Die 11 Tagesstunden, die 11 Brunnen und die ritualisierte Handlung sollen das einheimische Publikum zum Mitmachen aktivieren. Auch wenn sie den samstäglichen Markt nach Anweisung der Stadt zu meiden hat, wird sie die Resonanz der Stadt anziehen und Fragen hinterlassen. Martin Rohde


Thomas Zollinger

Kurze Begegnungen

Thomas Zollinger wird uns mit seinem tänzerischen Einlassen auf das Gegenüber, ephemere Momente bescheren. Er wird sich in einem leeren Raum bewegen und seine Besucher mit einem Tanz, oder einem theatralischen Agieren empfangen. Für wenige Minuten, für „flüchtige Begegnungen“, die jedoch zu rituellen Gesten werden können oder aber auch vergehen, bevor sie entstehen. Mit ihnen lassen sich unsere eingeschliffenen Bewegungsvorstellungen hinterfragen, für einen kurzen Moment, der hoffentlich Spuren hinterlässt. Martin Rohde


Isabel Obrecht

Wir sind alle verbunden, hier und jetzt

Isabel Obrecht möchte im Künstlerhaus ihre Wurzeln beleuchten. Zugegeben vereinfacht gesagt. Aber sie möchte ihre Arbeit durchaus als Beschäftigung mit den in der Region verhafteten Ursprüngen verstanden wissen. Ihre Grosselten kommen aus der näheren Umgebung von Solothurn und sie spürt eine Verbindung zu ihnen, der sie in ihrer hiesigen Arbeit Ausdruck verleihen will. Schwarze Erde bedeckt den Boden eines Raumes. An einer Wand steht die Definition von Myzel (Pilz in seinem Ganzen) gross, gut sichtbar geschrieben, beleuchtet, schwarz auf weiss. Die Pilze bilden ein weltumspannendes Netz, wie unsere Vorgeschichte. Die Künstlerin kommt in den dunklen Raum. Sie trägt ein weisses Kleid und ist barfuss. Sie geht sehr langsam über die Erde, Schritt für Schritt und streut nachleuchtendes Pigment auf ihre Spur, die noch eine Weile leuchten wird und dann vergeht. Die Künstlerin schreibt an die Wand mit nachleuchtendem Pigment ein paar Zeilen, die uns auf den Weg führen sollen. Martin Rohde


Regula Verdet Fierz

Guckkasten

Regula führt uns die vergängliche Existenz eines Ei’s vor, die sie im Schaufenster des Künstlerhauses präsentiert. Die Künstlerin setzt einen Guckkasten aus Wachs ein, in dem ein Ei mit der Beschriftung „éphémère“ in einer sauren Flüssigkeit liegt. Das Auflösen erfolgt in zwei Stufen. Durch das dünner werden und langsame Verschwinden der Schale wird die Fragilität des Eies, einem wichtigen Symbol für unseren Ursprung, hervorgehoben. Mit dem Abschluss der ersten Zersetzungsstufe lösen sich auch die Einzelteile des Schriftzugs „éphémère“ vom Ei und die schwimmenden Buchstaben ergeben keinen Sinn mehr. Somit ist auch der Begriff seiner Bedeutung anheim gefallen. Auch wenn die Zerstörung der Schale dem Ei naturgemäss eingeschrieben ist, so könnte das langsame Auflösen der Ei-Schale als Metapher für das Dünnschaligerwerden unserer Gesellschaft verstanden werden. Martin Rohde


Ana Rakel Ruiz de Sabando

Die unerträgliche Ewigkeit

Ana Rakel Ruiz de Sabando präsentiert uns die Arbeit „Die unerträgliche Ewigkeit“, bei der ein von ihr gestaltetes Wachsbild sich durch Wärmeeinfluss auflöst. Eine wunderbare und gut inszenierte Arbeit, die uns vor allem auf das Vergängliche der Kunst zurück wirft. In einem einzigen Blick auf ein vergehendes Kunstwerk können wir vielleicht mehr empfangen, als in hunderten auf ein unveränderliches. Nur der Prozess zählt, das Werk selbst ist nicht mehr so bedeutend. Ana Rakel hat in ihrer Projekteingabe nicht nur ihr eigenes Projekt beschrieben, sondern mit treffenden Worten das allgemeine Wesen des Ephemeren gut getroffen, deswegen möchte ich sie hier zum Abschluss zitieren: „Das Leben und die Existenz bestehen aus vielen verschiedenen ephemeren Momenten. Sie bilden ein Kommen und Gehen von Situationen, Erfahrungen und Gefühlen. Das einzige was bleibt ist die Erinnerung. Eine Erinnerung, die sich jedoch ebenfalls mit dem Lauf der Zeit verändert und entwickelt. Die Menschen benötigen das Ephemere, um die eigene Existenz ertragen zu können. Ein Leben, in dem alles ewig dauert, würde uns bestrafen zu einem Leben in einer Endlos-Schleife, in der die identischen Erfahrungen, Gefühle, Bilder etc. unermüdlich wiederholt würden. Jeder Prozess und jede Transformation, wie der Verlauf eines Lebens, braucht seine Zeit. Beeinflusst von der Technologie und dem Digitalen denken wir heute jedoch, alles manipulieren, beschleunigen, reduzieren, löschen oder neustarten zu können. Als wären wir kleine Götter, welche alles unter Kontrolle haben.“ Martin Rohde